Keine Ursache

Krebsregister sollen alle Bundesbürger erfassen, die an einem bösartigen Tumor leiden. Während Bund und Länder um die Finanzierung streiten, wird eine große Chance für bessere Vorsorge vertan.


Von Klaus-Peter Görlitzer
Alle Jahre wieder entsteht die amtliche Statistik, doch ihr Ergebnis sieht immer wieder gleich aus: Die zweithäufigste Todesursache in der Bundesrepublik heißt "bösartige Neubildung", der Volksmund nennt sie Krebs. Ende Mai beschloss der Bundestag ein "Gesetz über Krebsregister". Sein Ziel: alle Menschen zu erfassen, die an einem bösartigen Tumor leiden.

   Das Gesetz verpflichtet alle Bundesländer, bis spätestens 1999 bevölkerungsbezogene Gebietsregister einzurichten und nach einheitlichen Vorgaben zu führen. Das Gesetz tritt allerdings nur in Kraft, wenn der Bundesrat zustimmt. Am kommenden Freitag steht dort das Thema auf der Tagesordnung. Mit dem Ja oder Nein zu dem neuen Gesetz entscheidet die Länderkammer, so der Mainzer Medizinstatistiker und Befürworter des Krebsregisters, Klaus Pommerening, ob "eine Art Großtechnologie" in Gang kommt, "mit der wir viele Jahrzehnte leben müssen".

    Zweck des Datensammelns, so verheißt es jedenfalls Paragraph 1 des Gesetzes, ist die "Krebsbekämpfung". Zudem soll es "die epidemiologische Forschung einschließlich der Ursachenforschung" verbessern. Solche Versprechen wecken Erwartungen. Ob sie berechtigt sind und was Krebsregister überhaupt aussagen und leisten können oder welche methodischen Probleme sich dabei auftun – solche inhaltlichen Fragen sind in Politik und Öffentlichkeit bislang weitgehend ausgeklammert.

"Projektion der Krebsneuerkrankungen bis 2002"
    Krebsregister dienen im wesentlichen dem, wie Fachleute sich ausdrücken, "Monitoring", sprich dem "Überwachen des Krebsgeschehens in der Bevölkerung". Was das konkret heißt, lässt sich am bundesdeutschen Vorbild studieren, dem seit 1967 bestehenden saarländischen Krebsregister. Seine Jahresberichte listen detailliert auf, wie viele Menschen neu erkrankt und gestorben sind – aufgeschlüsselt nach Tumorarten und in Verbindung gesetzt zu persönlichen Merkmalen der Krebsopfer wie Alter und Geschlecht.

    Aus den Berichten geht auch hervor, ob und wie sich diese Zahlen im Laufe der Jahre verändert haben. Woher jedoch Zu- und Abnahme rühren, sagen die Zahlen nicht. Trotzdem lässt sich mit solchen Daten, wie sie das Saarland erhebt, eine "Projektion der Krebsneuerkrankungen bis zum Jahr 2002" konstruieren.

    Solche Berechnungen sind allerdings, wie die saarländischen Datensammler auch zugeben, "mit zahlreichen Unsicherheitsfaktoren" gespickt. Dennoch dienen sie dazu, etwa den Bedarf an krebsmedizinischen Einrichtungen, zum Beispiel Tumorzentren, vorherzusagen. Ob aber das Kettenrauchen, das Atomkraftwerk oder die Gifte am Arbeitsplatz oder alle zusammen den jeweiligen Menschen zum Krebspatienten gemacht haben – bei diesen Fragen halten sich die Statistiker bedeckt. Denn Ursache-Wirkung-Beziehungen sind per Register nicht nachzuweisen.

    Die meisten Krebsarten haben sehr lange Latenzzeiten: Wenn sie schließlich registriert werden, liegen die möglichen Ursachen der Krankheit schon 20 bis 30 Jahre zurück. Auch ein neu auftretendes Risiko, etwa ein krebserregender Arbeitsstoff, kann in der Datenflut eines bevölkerungsbezogenen Registers leicht untergehen, vor allem dann, wenn nur ein kleiner Teil der erfassten Patienten, etwa Beschäftigte einer Fabrik, dem neuen Risikofaktor ausgesetzt sind. Das Identifizieren eines neuen oder wenig verbreiteten Krebsauslösers mittels Statistik wird um so unwahrscheinlicher, je verbreiteter eine Tumorart ist – "Überdeckungsphänomen" nennen das die Fachleute.

    Gleichwohl betonen Politiker und Epidemiologen immer wieder, dass vom Register "Alarm- und Signalfunktionen" ausgingen. Dahinter steckt eine Hoffnung, wie sie Sabine Bergmann-Pohl (CDU), parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, während der Gesetzesberatungen formulierte: "Krebsnester, also besonders oft auftretende Erkrankungen an bestimmten Orten, sind leichter zu entdecken, wenn wir auf die Informationen aus regionalen, aber flächendeckenden Registern zurückgreifen können."

    Legen die erfassten Daten einen entsprechenden Verdacht nahe, gibt es Arbeit für die Epidemiologen. Vorausgesetzt, der politische Wille und die finanziellen Mittel dafür sind vorhanden. Die Wissenschaftler sollen leisten, was Paragraph 1 des Gesetzes als "Ursachenforschung" versteht: Sie haben zu prüfen, ob gespeicherte Häufungen tatsächlich "statistisch auffällig" sind und, wenn ja, ob sie zufällig auftreten oder nicht.

Praktische Konsequenzen bleiben aus
    Derartige Untersuchungen zur Krebskrankheit füllen auch ohne systematisches Registrieren längst Behördenregale und Bibliotheken. Angeregt haben sie in der Regel allerdings nicht Politiker und Verwaltungen, sondern Bürger und Ärzte, denen Krebsfälle in ihrer Nachbarschaft verdächtig vorgekommen waren. Vermutete Ursachen: Schadstoffe aus Atomkraftwerken, Sondermülldeponien oder Industrieunternehmen. Mal bescheinigte ein Gutachter, dass im Einzugsgebiet der vermuteten Krebsquelle eine erhöhte Leukämierate anzutreffen sei – wie im Fall der niedersächsischen Sondermülldeponie Münchehagen. Mal formulierte ein anderer Gutachter das Gegenteil – so etwa der Mainzer Epidemiologe Jörg Michaelis, der kein erhöhtes Krebsrisiko für Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken wohnen, entdecken konnte.

    Praktische Konsequenzen bleiben nach dem Veröffentlichen einer Studie in den allermeisten Fällen aus. Statt dessen folgt regelmäßig ein Expertenstreit – Auseinandersetzungen, die sich über Jahre dahinziehen. Michaelis führte ihn im Falle seines AKW-Gutachtens mit einem bemerkenswerten Argument: "Es ist allgemein bekannt", so der einflussreiche Wissenschaftler aus Mainz, "dass epidemiologische Studien, insbesondere solche mit dem von uns gewählten ökologischen Ansatz, niemals beweisen können, dass ein interessierendes Risiko nicht vorhanden ist."

    Und sein Bremer Kollege Eberhard Greiser, der für die Münchehagen-Studie verantwortlich zeichnete, kommentierte: "Dies lässt nun überhaupt keine Schlüsse darauf zu, ob die Nähe zur Deponie und etwaige von dort ausgehende Emissionen ursächlich zur Neuerkrankungshäufigkeit beigetragen haben." Zur Klärung müsse möglichst jedem Einzelfall nachgegangen werden – mit weiteren Untersuchungen.

    Einzelfälle lassen sich allerdings auch ohne die "Großtechnologie Krebsregister" untersuchen, was jedoch intensives Interesse an den Beforschten, ihrer Biographie und ihren Lebensbedingungen voraussetzt. Kritiker erkennen hier erhebliche Defizite der herrschenden Lehre. "Die Wissenschaft verschwendet kaum einen Gedanken daran, die Menschen selbst sprechen zu lassen, mit ihnen Möglichkeiten zu erörtern, wie einer gesundheitsgefährlichen Chemie oder Strahlenbelastung begegnet werden kann", klagte der Medizinsoziologe Wolfgang Hien auf einer Fachtagung zum "Stellenwert von Krankheitenregistern", die das Bremer Hauptgesundheitsamt veranstaltete.

Längst bekannte Risiken
    Von wenig Menschenfreundlichkeit zeugt auch die Tatsache, dass in deutschen Betrieben rund 200 krebserregende oder hoch krebsverdächtige Stoffe benutzt werden dürfen. Ein Verbot dieser Substanzen wäre ein politischer Beitrag zur "Krebsbekämpfung", den wohl auch jeder Laie verstehen könnte. Doch Entscheidungen, die darauf abzielen, längst bekannte Risiken konsequent zu beseitigen, lassen in Bonn auf sich warten.

    Statt dessen plädiert die Berliner Bundesanstalt für Arbeitsmedizin dafür, Krebsregister aufzubauen. Durch den Abgleich mit den erfassten Daten, so ihre Argumentation, könne wesentlich genauer als bisher abgeschätzt werden, wie hoch das Tumorrisiko für Arbeiter sei, die Dioxinen, Furanen, Schwermetallen und den Emissionen von Dieselmotoren ausgesetzt sind. Derartige Projekte zielen offensichtlich nicht auf das Ausgrenzen von Krebsverursachern – sondern auf die "Verwissenschaftlichung" des politischen Streits um Giftmengen, die für Menschen noch zumutbar sein sollen.

    Trotz aller grundsätzlichen Probleme eines Krebsregisters – in Frage gestellt haben es die Bonner Gremien bislang nicht. Und so wird sich, wenn die Vorzeichen nicht trügen, auch der Bundesrat am 8. Juli keineswegs auf inhaltliche Diskussionen einlassen. Doch einen wesentlichen Streitpunkt gibt es: Wer soll den Aufbau der Register bezahlen? Schätzungen gehen davon aus, dass die Bundesländer für ein flächendeckendes Datenbanknetz jährlich mindestens 80 Millionen Mark aufbringen müssten, während der Bund nur 200.000 Mark beisteuern will. Vor allem mit der "unzureichenden Finanzbeteiligung des Bundes" begründet die SPD-Fraktion, warum sie sich bei der Abstimmung im Bundesrat enthalten will.


© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 1994
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aus:
Das 
Sonntagsblatt

1. Juli 1994



 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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