Publik-Forum Nr.5/1999

Organe züchten und Krankes aussondern?
Wissenschaftler proben den Zugriff auf menschliche Zellen –
wird das strenge deutsche Embryonenschutzgesetz ausgehebelt?


Von Klaus-Peter Görlitzer
Eine medizinische Verheißung sorgt für Schlagzeilen: US-amerikanische Wissenschaftler haben im November angekündigt, eines Tages würden sie in der Lage sein, aus Embryo-Stammzellen Gewebe und Organe zu züchten – Haut, Knochen, Herzen, Lebern. Kranke Organe sollen dann gegen menschliche Ersatzteile ausgetauscht werden können, Krankheiten wie Demenz oder Parkinson (Schüttellähmung) durch Transplantation gezüchteter Hirnzellen gelindert oder geheilt werden können.

    James Thomson und John Gearhart haben es nach eigenen Angaben erstmals und unabhängig voneinander geschafft, menschliche embryonale Stammzellen zu kultivieren, aus denen sich jedes beliebige Gewebe des Körpers entwickeln könne. Thomson hatte die Zellen von Embryonen entnommen, die zunächst für künstliche Befruchtungen vorgesehen, dann aber nicht in die Gebärmutter von Patientinnen transferiert worden waren; Gearhart beschaffte sich Zellen aus abgetriebenen Föten.

    Zwar hatte der US-Kongreß 1995 beschlossen, daß für die Forschung an Embryonen keine staatlichen Gelder zur Verfügung gestellt werden dürfen. Doch diesen Bann haben die National Institutes of Health unter dem Eindruck der neuen Verheißungen nun gebrochen: Im Januar 1999 kündigten sie an, Versuche mit menschlichen Stammzellen öffentlich zu fördern; siebzig Kongreßabgeordnete haben inzwischen dagegen protestiert.

    In Deutschland sind derartige Experimente bisher nicht zulässig. Das Embryonenschutzgesetz (ESchG), das seit 1991 gilt, erlaubt die Erzeugung von Embryonen ausschließlich zu dem Zweck, eine Schwangerschaft herbeizuführen. Ob dies so bleiben wird, ist allerdings fraglich. Denn es häufen sich Stimmen, die Forschung sowie Gentests an Embryonen auch hierzulande erlauben wollen.

    Der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Ernst-Ludwig Winnacker, versicherte im Januar zwar, seine Organisation stehe weiter hinter dem ESchG. Aber die DFG hat auch eine Kommission eingesetzt, die Ende März eine Stellungnahme dazu vorlegen soll, welche Versuche mit embryonalen Stammzellen nach geltendem deutschen Recht möglich seien und welche nicht. Bereits 1996 hatte sich die DFG in einer Denkschrift öffentlich für Experimente mit Embryonen stark gemacht und festgestellt: "Diese Forschung muß auch das Risiko in Kauf nehmen, daß ein Embryo die dazu notwendigen Untersuchungen nicht überlebt."

    Einige Politikberater wie der Tübinger Moraltheologe Dietmar Mieth lehnen es kategorisch ab, menschliche Embryonen für medizinische Zwecke zu instrumentalisieren. Dieses Tabu wird auf der Bonner Bühne inzwischen in Frage gestellt. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, Wolf-Michael Catenhusen (SPD), plädiert seit Wochen in Interviews dafür, Stammzellen-Forschung zu ermöglichen. Catenhusen hält es "ethisch für vertretbar, Stammzellen aus weiter entwickelten abgegangenen Föten zu gewinnen, die dann nicht mehr totipotent, sondern nur noch pluripotent sind". Solche Zellen könnten für medizinische Versuche zwecks Züchtung von Organen genutzt werden, meint der Staatssekretär.

    Als "totipotent" bezeichnen Wissenschaftler embryonale Zellen, die sich jeweils zu einem ganzen Menschen entwickeln können; "pluripotente" Zellen sind dazu nicht mehr fähig. Wann der Verlust der Totipotenz eintritt, ist umstritten: Einschätzungen von Reproduktionsexperten variieren vom 8-Zell-Stadium bis zum 32-Zell-Stadium des Embryos.

    Noch ist die Züchtung von Körperteilen aus embryonalen Stammzellen nicht mehr als eine Vision. Dagegen wird die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID) bereits in einigen Staaten eingesetzt, vornehmlich in den USA und in Belgien, aber auch in Kanada, den Niederlanden, Großbritannien und Italien. Die Methode wurde Ende der achtziger Jahre entwickelt; sie dient dazu, Embryonen mit unerwünschten genetischen Eigenschaften zu identifizieren und auszusondern: Drei Tage nach der künstlichen Befruchtung der Eizellen entnimmt der Diagnostiker dem Embryo eine Zelle und unterzieht sie einer Genanalyse. Spürt er dabei die gesuchte Abweichung auf, etwa eine Veranlagung für erbliche Krankheiten wie die Stoffwechselstörung Mukoviszidose oder die Bluterkrankheit Hämophilie A, vernichtet er den Embryo. Stellt er keinen "Gendefekt" fest, setzt er ihn in die Gebärmutter der Patientin ein; die Chance, daß sie tatsächlich schwanger wird, liegt statistisch bei zehn bis zwanzig Prozent.

    Der Reproduktionsmediziner Klaus Diedrich steht längst in den Startlöchern: Bei der Ethik-Kommission der Medizinischen Universität zu Lübeck beantragte er, die PID-Technik erstmals in Deutschland erproben zu dürfen. Als Testpaar schlug Diedrich eine Frau und einen Mann vor, denen Ärzte eine vererbbare Genveränderung attestiert hatten, die bei ihren Nachkommen Mukoviszidose verursachen kann. Im August 1996 legte die Kommission ihr Votum vor - mit einem zwiespältigen Tenor: Aus rechtlicher Sicht, so die acht Experten, könnten sie dem geplanten Versuch zwar nicht zustimmen. Aber "bezogen auf diesen speziellen Fall" hätten sie Zweifel, "ob das Embryonenschutzgesetz ethisch noch vertretbar ist." Professor Diedrich schickte das Lübecker Votum an das Bundesministerium für Gesundheit, um Stimmung gegen das ESchG zu machen. Tatsächlich überlegen Politiker und Ministerialbeamte seitdem, wie die Zulassung der PID juristisch gerechtfertigt werden kann.

    Heute, zweieinhalb Jahre später, sagt Staatssekretär Catenhusen, der Gentest am Embryo sei unter Umständen schon nach dem geltenden ESchG zulässig - und zwar dann, wenn die Untersuchung an etwas älteren Embryonen vorgenommen werde, deren Zellen nicht mehr totipotent, sondern nur noch pluripotent sind.

    Gestützt wird diese Auffassung von Rudolf Neidert, der im Bundesgesundheitsministerium seit Jahren für medizinrechtliche Fragen zuständig ist. Der Ministerialrat hatte bereits vor der Bundestagswahl in einem Fachzeitschriftenaufsatz behauptet, die PID sei "nach wohl richtiger Auslegung ... an nicht mehr totipotenten Zellen nach dem Embryonenschutzgesetz nicht verboten". Da seine Interpretation, wie Jurist Neidert einräumte, "auch bestritten werden kann", empfehle sich eine entsprechende Klarstellung, wenn das Gesetz novelliert werden sollte.

    Offiziell arbeiten Neidert und Kollegen daran noch nicht. Gleichwohl wird in Bonn seit Wochen kolportiert, eine Reform des ESchG oder gar ein neues "Fortpflanzungsmedizingesetz" seien in Vorbereitung. Neidert selbst hatte im Dezember öffentlich gemutmaßt, politische Entscheidungen würden wohl Anfang 1999 fallen – eine Annahme, die der Pressesprecher des Bundesjustizministeriums, Bernhard Böhm, derzeit weder bestätigen noch dementieren will.

    Dabei ist die Diskussion darüber, ob die Selektion von Embryonen im Reagenzglas überhaupt gesellschaftlich erwünscht ist, längst nicht abgeschlossen. Vor allem Behindertenverbände lehnen die PID als "eugenische Technik" ab. Befürchtet wird, daß "Risikopaare" mit genetischer Veranlagung für Krankheiten oder Behinderungen dereinst genötigt werden könnten, die PID in Anspruch zu nehmen. Schon heute müssen Eltern, die sich - trotz Möglichkeit zur vorgeburtlichen Diagnostik und Vermeidung – entschieden haben, mit behinderten Kindern zu leben, moralischen Druck und finanzielle Nachteile ertragen.

    Mehrere Studien warnen vor der PID. Ein dickes Gutachten, erstellt von der Biologin Regine Kollek und dem Humangenetiker Karsten Held im Auftrag der Hamburger Gesundheitsbehörde, wurde im Dezember in Bonn vorgestellt. Die "Zeugung von Embryonen auf Probe und ihre Vernichtung bei nicht bestandener genetischer Überprüfung", prophezeien die Hamburger Professoren, könne "sehr viel weitergehende Konsequenzen haben als die Pränataldiagnostik, wenn durch ihre Erlaubnis gleichzeitig das Tor zur Embryonenforschung geöffnet wird".

    Internationale Erfahrungen sprächen zudem dafür, daß die PID nicht auf einen kleinen Personenkreis beschränkt bleiben werde. "Der Staat", mahnt Technikfolgenabschätzerin Kollek, "sollte in einem so bedeutsamen Bereich dem ärztlichen Handeln Grenzen setzen."


© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 1999
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