Das Ersatzteillager ist noch Zukunftsmusik
Molekularbiologie und Gentechnologie haben in diesem Jahrhundert Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Die neuen Techniken ermöglichen es, Erbmaterial auszutauschen, zu manipulieren und beliebig zu kombinieren. Von Anfang an waren sie mit Heilsversprechen verknüpft, aber auch mit eugenischen Zielen.


Von Klaus-Peter Görlitzer
Heute lernt jedes Kind in der Schule, was vor einem halben Jahrhundert als epochale Entdeckung gefeiert wurde: das Modell der Erbanlagen in der Form einer Doppelhelix, die aussieht wie eine in sich gewundene Strickleiter. Das Modell wurde 1953 von den Biochemikern Francis Crick und James Watson präsentiert. Im winzigen Kern jeder Körperzelle, so die Theorie, befinde sich das Molekül Desoxyribonukleinsäure (DNS), in der die gesamte Erbinformation eines Menschen gespeichert sei. Begeistert nahm die Wissenschaftlergemeinde das "Watson-Crick-Modell" auf, bis heute markiert es den Durchbruch der modernen, molekularen Biologie.

    "Jetzt können wir den Menschen definieren", jubelte neun Jahre später der Genetiker und Medizinnobelpreisträger Joshua Lederberg; das Wesen unserer Art bestehe "aus einer 180 Zentimeter langen bestimmten molekularen Folge von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Sauerstoff-, Stickstoff- und Phosphoratomen". Lederberg war einer jener 27 berühmten Wissenschaftler, die im November 1962 auf Einladung der Ciba-Foundation in London zusammenkamen, um ihren Fortschrittsfantasien fünf Tage lang freien Lauf zu lassen. Thema des weltweit beachteten Symposiums war "Der Mensch und seine Zukunft".

    In den Mittelpunkt stellten die ausnahmslos männlichen Redner bewusst die Biologie, deren moderne Variante begonnen hatte, die Leitwissenschaften Chemie und Physik herauszufordern. "In vielleicht noch nie gekanntem Ausmaß", schreibt der Zoologe Wolfgang Wieser in der deutschsprachigen Dokumentation der Tagung, werde die Biologie "imstande sein, in das Gleichgewicht der Natur sowie in den Lebensprozeß selbst heilend oder vernichtend einzugreifen."

    Der Glaube an die Macht der Gene und - daraus abgeleitet - der Anspruch, dass Biologen ein größeres Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen bekommen müssten, zogen sich wie ein roter Faden durch das Ciba-Symposium. Mehrere Referenten beklagten, dass sich die Menschheit genetisch verschlechtere, was eine Zunahme von Erbkrankheiten verursache und einen erhöhten Versorgungsaufwand notwendig mache. "Die Verbesserung der genetischen Qualität des Menschen durch eugenische Verfahren", sagte etwa der Biologe und frühere Unesco-Generaldirektor Julian Huxley, "würde eine große Last an Leiden und Qual von den Schultern der Menschheit nehmen und zur Steigerung der Lebensfreude und der Tüchtigkeit beitragen." Und der Nobelpreisträger und Genetiker Hermann J. Muller bekräftigte: "Was wir in diesem Augenblick brauchen, wäre eine Verstärkung der genetischen Selektion."

    Huxley und Muller plädierten dafür, eugenische Maßnahmen mittels Techniken durchzusetzen, die auf Basis des neuen molekularbiologischen Wissen entwickelt werden sollten. Grundlegend dafür, empfahl Muller, solle die Methode der künstlichen Befruchtung werden – und zwar durch gezielte Verwendung von Spermien ausgewählter Spender, die in Samenbanken tiefgekühlt gelagert werden sollten.

    Solche in der Tierzucht erprobten Methoden auf den Menschen zu übertragen, fand Nobelpreisträger Lederberg schon damals ziemlich altmodisch. Die Molekularbiologie, prophezeite er, werde Eugeniker bald befähigen, Keimzellen zu züchten und zu manipulieren; Träger krankheitsverursachender Gen-Veränderungen könnten identifiziert und "gewünschte Gene" ausgesondert und integriert werden. So werde es etwa möglich, Lern- und Erinnerungsvermögen zu steigern und die Lebensdauer erheblich zu verlängern.

    Das Echo auf das Ciba-Symposium war geteilt, Widerspruch regte sich, auch unter Wissenschaftlern. So befand der Biochemiker Erwin Chargaff, der Kongress dokumentiere die "Dummheit der Schlauen; eine Dummheit, die zur Brutalität wird, wenn sie sich zu einer kosmetischen Verbesserung des Menschenbildes entschließt". Trotz solcher Bedenken sind Reproduktionsmedizin und Gentechnologie heute in den Industriestaaten so fest verankert, dass auch gentechnik-kritische Geister wie der Trendforscher Jeremy Rifkin das 21. Jahrhundert als "Das biotechnische Zeitalter" ankündigen.

    Dabei fällt die Bilanz von Molekularbiologe und Gentechnik, gemessen an den Visionen und Versprechungen, eher bescheiden aus. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die seit Mitte der achtziger Jahre intensiv läuft, soll spätestens Ende 2003 abgeschlossen sein. Welche Funktionen die schätzungsweise rund 100.000 menschlichen Gene haben oder nicht, wird aber auch dann noch lange unklar bleiben. In Deutschland gibt es heute rund 100 molekulargenetische Tests, mit denen die Veranlagung für seltene Erbkrankheiten wie Mukoviszidose oder Veitstanz festgestellt werden kann. Die Aussagekraft ist jedoch begrenzt: "Ob die betreffende Krankheit tatsächlich auftreten wird", heißt es in einer aktuellen Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft, "lässt sich durch den Test nicht sicher entscheiden." Zudem haben die meisten Krankheiten zahlreiche Ursachen, wobei auch Gen-Mutationen eine Rolle spielen können, aber nicht müssen.

    Brisant ist, dass die Schere zwischen Diagnostik und Therapie stetig auseinander geht. Heilserwartungen, die Wissenschaftler an gentechnische Methoden geknüpft haben, blieben bislang unerfüllt. Rund 4.000 Menschen haben seit 1989 weltweit an Gentherapie-Versuchen teilgenommen, gesund geworden ist dabei niemand. Für den Probanden Jesse Gelsinger endete eine gentherapeutische Studie an der University of Pennsylvania im September 1999 sogar tödlich.

    Auch weitere Verheißungen sind bislang allenfalls Zukunftsmusik. Dazu zählen Ankündigungen von Forschern, die Körperteile genmanipulierter Schweine auf Menschen übertragen wollen. Oder Pläne, aus menschlichen embryonalen Stammzellen irgendwann Gewebe und Organe zu züchten - als individuelle Ersatzteillager.

    Eugenische Ziele, die Teilnehmern des Ciba-Symposiums vorschwebten, propagiert heute kaum ein Wissenschaftler oder Politiker öffentlich; weitgehend tabu sind auch das Klonen von Menschen und gezielte Manipulationen menschlicher Keimzellen, zumal solche Eingriffe technisch bisher nicht funktionieren.

    Doch die Gefahr, dass gentechnische Handlungsoptionen eugenisches Denken befördern können, ist nicht gebannt. Schon Anfang der neunziger Jahre warnte das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB), die freiwillige Teilnahme an genetischen Reihenuntersuchungen könne einer "Eugenik von unten" Vorschub leisten – also einer Menschen-Auslese, die nicht staatlich verordnet sei, sondern mittels zahlreicher persönlicher Entscheidungen um sich greife. Als Konsequenz drohe, orakelte das TAB, "ein sich schleichend durchsetzender gesellschaftlicher Konsens über die Vermeidbarkeit behinderten Lebens, der langfristig zu einer Diskriminierung von Behinderten und Eltern behinderter Kinder führen könnte". Ob es im "biotechnischen Zeitalter" so weit kommen wird, hängt nicht nur von Politik und Wissenschaft, sondern auch vom Verhalten jedes Einzelnen ab.

© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 1999               
Alle Rechte vorbehalten

Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors
aus:
Südwest Presse 

18. Dezember 1999












 
 
 
 
 


 
   










































































Seitenanfang

Artikel-Auswahl
Home