Kieler Nachrichten   7. Dezember 1996

Einfach sterben lassen?


Von Ute Bertrand und Klaus-Peter Görlitzer
Hartmuts Zimmer liegt nach hinten raus. Hier steht sein Computer, im Regal sind die Modellautos aufgereiht, die er mit links gebaut hat; die rechte Hand ist noch immer von spastischen Lähmungen verkrampft. An der Stange, die in den Fußboden eingelassen ist, hat er seine ersten Gehversuche gemacht. Heute kann Hartmut Deharde, gestützt auf einen Vierpunktstock, wieder laufen. Das hatten seine Ärzte nie für möglich gehalten; sie hatten ihn längst aufgegeben.

    Nach einem schweren Autounfall diagnostizierten sie 1989 ein Schädel-Hirn-Trauma dritten Grades. Sie machen den Eltern, Heinz und Lisa Deharde, keine Hoffnung mehr. "Immer und immer wieder sagten uns die Ärzte, daß er sterben wird und daß wir uns damit abfinden müßten", erinnern sich Hartmuts Eltern. "Schließlich ist uns das zuviel geworden, und wir haben den Ärzten gesagt, sie sollten uns damit zufrieden lassen. Wir wollten doch unserem Sohn Kraft geben und ihn nicht darauf vorbereiten, daß er in die Kiste kommt."

    Tag für Tag sitzt Lisa Deharde am Bett ihres bewußtlosen Sohnes, streichelt ihn und spricht ihm Mut zu. Komapatienten scheinen nicht ansprechbar zu sein; doch sie atmen, bewegen sich, öffnen und schließen ihre Augen, haben Wach- und Schlafphasen, können Schmerz empfinden. "Auch im Koma sind Menschen durch ihren lebendigen Körper und die Sinne mit der umgebenden Natur und anderen Menschen verbunden", schildert Andreas Zieger seine Erfahrungen. Der Neurochirurg versorgt im Nordwest-Krankenhaus Sanderbusch bei Wilhelmshaven Patienten im Koma. "Die zwischenmenschliche Kommunikation und die sozialen Zeichen der Hoffnung", schreibt Zieger in einem Ratgeber für Angehörige, "sind für den Überlebenswillen der Betroffenen und für den Erfolg der Behandlung und Rehabilitation von großer Bedeutung."

    Lisa Deharde war in der Zeit des bangen Wartens oft verzweifelt. Endlich, nach drei Monaten, schlägt der schon Totgesagte die Augen wieder auf. Man verlegt ihn in eine Reha-Klinik nach Hessisch-Oldendorf. Doch dort bessert sich sein Zustand kaum. Weil es die Patienten angeblich ablenke, dürfen die Eltern kein einziges Mal an den Therapiestunden teilnehmen, und auch ein Sprachtraining findet nicht statt. Dabei baut man in anderen Reha-Einrichtungen ausdrücklich auf die aktive Mitarbeit der Angehörigen.

    Nach eineinhalb Jahren weigert sich die Klinik, Hartmut Deharde länger dazubehalten. "Ich muß hier Platz schaffen" - dieser Satz des verantwortlichen Arztes klingt den Dehardes noch heute in den Ohren. "Geben Sie Ihren Sohn in ein Heim", empfiehlt der Arzt.

    Die Eltern nehmen Hartmut zu sich nach Hause. Sie bauen ihre Wohnung behindertengerecht um, organisieren Krankengymnastik, Sprach- und Arbeitstherapie. Nach und nach lernt er, wieder zu sprechen und wieder zu laufen. Bis heute macht er Fortschritte, wenn auch nicht mehr so rasch wie am Anfang. Sein Lebensmut und sein Trotz haben gesiegt - über Resignation und Totsagen einiger Mediziner, und darauf ist Hartmut Deharde stolz: "Immer wenn ich gespürt haben, daß sie mich aufgeben wollten", erzählt er, "habe ich mir gesagt: jetzt erst recht." Als er vor einiger Zeit noch mal die Intensivstation besuchte, war das Pflegepersonal total überrascht und begeistert, daß er so tolle Fortschritte gemacht hat. "Das war eine Bestätigung für mich", freut er sich, "ein Gefühl, als würde mir jemand auf die Schulter klopfen."

    Jährlich stürzen in Deutschland mindestens 3.000 Menschen in tiefe Bewußtlosigkeit - "apallisches Syndrom" (Koma) lautet dann die Diagnose. Passieren kann das jedem, die Ursachen sind vielfältig: Verkehrs- oder Sportunfall, Tumor, Schlaganfall, Blutung oder Entzündung des Gehirns. Im gesamten Bundesgebiet gibt es nur rund 700 qualifizierte Behandlungsbetten für Patienten im apallischen Syndrom. Daß mindestes dreimal so viel gebraucht werden, wissen Politiker und Krankenkassen spätestens seit 1992, als das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung eine entsprechende Expertenschätzung veröffentlichte.

    Eine bessere Versorgung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Ein europäisches Forschungsprojekt, an dem aus Deutschland auch das Bonner Institut für Wissenschaft und Ethik und das Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht mitwirken, gibt Anlaß zu einer unsäglichen Befürchtung: Dem Totsagen von Komapatienten könnte bald ihre aktive Tötung folgen.

    Bezahlt durch Steuergelder aus dem Biomed-Programm der Europäischen Union, stellten Ethiker und Juristen in mehreren EU-Staaten tausenden Medizinern Fragen wie diese: "Halten Sie es für vertretbar, Menschen im Koma durch Entfernung der Magensonde verhungern zu lassen? Wenn ja, ab wann?" Vier Alternativen gab der Fragebogen vor: Abbruch der künstlichen Ernährung nach dem dritten, sechsten, zwölften Monat der anhaltenden Bewußtlosigkeit oder später.

    "Allein die Fragen sind ungeheuerlich und nicht zu glauben", protestierte Armin Nentwig, Vorsitzender des Bundesverbandes der "Schädel-Hirnpatienten in Not", der Selbsthilfeorganisation von Betroffenen und Angehörigen, die rund 2.500 Mitglieder zählt. Ähnlich wie Nentwig sehen es wohl auch etliche Mediziner - sie füllten den Fragebogen einfach nicht aus.

    Gleichwohl steht das Verhungern- und Verdurstenlassen von Komapatienten gegenwärtig auf der Tagesordnung der Bundesärztekammer (BÄK). Deren Vorstand will im Dezember neue "Richtlinien für die ärztliche Sterbebegleitung" beschließen, und BÄK-Vizepräsident Jörg-Dietrich Hoppe sieht Klärungsbedarf. "Ob der Entzug von Flüssigkeit, Wasser und Nahrung gleichzusetzen ist mit Töten, oder ob dies ein duldbares Sterbenlassen ist - diese Diskussion müssen wir auch führen."

    Die Beratung findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt - im siebenköpfigen BÄK-Ausschuß für medizisch-juristische Grundsatzfragen, der sich vor allem durch Standeskollegen in der Schweiz herausgefordert sieht. Dort hat die Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) 1995 neue Sterbehilfe-Richtlinien verabschiedet, die auch für Menschen gelten, die sich noch gar nicht im Sterbeprozeß befinden. Wem Ärzte nach mehrmonatiger Beobachtungszeit bescheinigen, seine Bewußtlosigkeit sei unwiderruflich, der muß in Krankenhäusern der Alpenrepublik gemäß SAMW-Vorgaben mit tödlichen Eingriffen rechnen: Entzug der künstlichen Zufuhr von Wasser und Nahrung, Abbruch von Beatmung und Medikation, Verzicht auf Bluttransfusion und Dialyse.

    Verunsichert hat die BÄK auch eine Entscheidung des Karlsruher Bundesgerichtshofes: Der BGH vertrat 1994 im Fall einer seit zweieinhalb Jahren bewußtlosen Frau die Auffassung, daß "ausnahmsweise ein zulässiges Sterbenlassen" durch Stopp der künstlichen Ernährung "nicht von vornherein ausgeschlossen ist, sofern die Patientin mit dem Abbruch mutmaßlich einverstanden ist".

    Dabei räumen Mediziner ein, niemand könne vorhersagen, wie lange ein Komazustand anhält. Unklar ist, ob der Betroffene - so wie Hartmut Deharde - das Bewußtsein wieder erlangen wird; oder ob er sterben wird. Einig ist sich die Wissenschaftlergemeinde in einem Punkt: Es gibt viel Forschungsbedarf, wenige Ergebnisse liegen bislang vor. 1993 veröffentlichte der Arzt Professor Keith Andrews eine vom British Medical Journal beachtete Koma-Studie, der zufolge 22 von 43 Patienten nach Rehabilitiation in einer Londoner Spezialklinik entlassen werden konnten. Elf von ihnen waren mindestens vier Monate ohne Bewußtsein gewesen. Die "Schädel-Hirnpatienten in Not" schätzen, daß zwei Drittel aller Komapatienten überleben, teils werden sie wieder völlig selbständig und berufstätig, teils müssen sie mit Behinderungen leben, teils sind sie lebenslang auf Pflege angewiesen.

    Welche Direktiven der BÄK-Ausschuß, dem Vizepräsident Hoppe selbst angehört, beschließen wird, könne er nicht vorhersagen; persönlich lehne er Verhungern- und Verdurstenlassen komatöser Menschen ab und halte sie für eine Form aktiver Euthanasie, die in Deutschland strafrechtlich verboten ist. Ungewiß ist, ob Hoppes Zurückhaltung sich durchsetzt. Denn im BÄK-Ausschuß sitzen auch Juristen wie der Göttinger Strafrechtsprofessor Hans-Ludwig Schreiber und der frühere BGH-Richter Erich Steffen. Beide haben in Fachzeitschriften wiederholt engagierte Plädoyers gehalten: für den straffreien Abbruch medizinischer Behandlung bei Menschen, deren Bewußtsein unwiederbringlich verloren sei - vorausgesetzt, sie seien mutmaßlich damit einverstanden.

    Derartige Liberalität empfindet der Verband der "Schädel-Hirnpatienten in Not" als existenzielle Bedrohung. "Menschen im Wachkoma verhungern zu lassen, das ist Mord", protestiert Armin Nentwig. Und Hartmut Deharde ist es schlicht unbegreiflich, daß hierzulande überhaupt über das Lebensrecht von Komapatienten diskutiert wird. "Man wird da ganz schön kalt, wenn solche Themen auf den Tisch kommen."


© UTE BERTRAND & KLAUS-PETER GÖRLITZER, 1996
                Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der AutorInnen
Zum Seitenanfang
Zur Artikelauswahl
Start