Kleinwüchsige fordern freie Wahl
Präparate mit Wachstumshormon werden in Bremen auffällig oft verordnet. Eine Krankenkasse bezweifelt, dass jeder abgerechnete Hormoneinsatz medizinisch notwendig gewesen sei. Wahlfreiheit wünscht sich dagegen ein Interessenvertreter kleinwüchsiger Menschen.


Von Klaus-Peter Görlitzer
Das Wachstumshormon Somatropin wird seit über 15 Jahren gentechnisch produziert. Zugelassen ist der Wirkstoff zur Therapie bei Kindern, denen es an körpereigenem Wachstumshormon mangelt; außerdem darf er bei einigen seltenen Organstörungen eingesetzt werden, etwa bei Niereninsuffizienz und beim Ullrich-Turner-Syndrom. Nicht erlaubt ist Somatropin zur Behandlung des von Fachleuten so genannten "idiopathischen Kleinwuchses", was schlicht bedeutet: ohne erkennbare Ursache.

    Anders in den USA: Dort hat die Arzneimittelbehörde FDA Ende Juli 2003 genehmigt, dass gesunden Kindern ein Somatropin-Präparat namens Humatrope gespritzt werden darf, sofern sie zu den kleinsten 1,2 Prozent in den USA gehören – auch, wenn man über den Grund nichts weiß.

    Hierzulande gilt als "kleinwüchsig", wer als Erwachsener nicht größer als 1,50 Meter wird, was für rund 100.000 Bundesbürger zutrifft. Ihre Interessen vertreten will der Bundesverband "Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien" (BKMF) mit Sitz in Bremen. Die Entscheidung der FDA unterstützt BKMF-Geschäftsführer Karl-Heinz Klingebiel zwar nicht pauschal. Er ist aber dafür, das Verabreichen von Somatropin in Ausnahmefällen auch bei Minderwuchs ohne bekannte Ursache zu ermöglichen. Begründung: "Mir geht es um die Möglichkeit der Betroffenen, frei zu wählen."

    Möglich, dass eine "freie Wahl" gelegentlich längst stattfindet und von Ärzten abgerechnet wird – zu Unrecht allerdings. Das jedenfalls argwöhnt die ebenfalls in Bremen ansässige Handelskrankenkasse (HKK), seitdem sie die Statistik der 30 umsatzstärksten Fertigarzneimittel in der Hansestadt durchforstet hat. Ergebnis für 2002: Auf den Plätzen 6 und 14 rangieren mit Genotropin und Norditropin zwei Medikamente, die das Wachstumshormon enthalten; insgesamt 2,6 Millionen Euro netto erstatteten Bremer Kassen 2002 für Somatropin-Präparate.

    Was der HKK besonders aufgefallen ist: In Bremen werden Rezepte für Wachstumshormon fast fünf Mal häufiger ausgestellt als im Bundesdurchschnitt. "Diese Abweichung", vermutet die HKK-Pharmazeutin Beate Jungmann-Klaar, "kann nicht allein medizinisch begründet werden." Deshalb habe man Nachforschungen angestellt. "In einigen Fällen", so Jungmann-Klaar, "haben wir sogar festgestellt, dass Somatropin entgegen den gesetzlich festgelegten Indikationen verschrieben wurde." 13 Fälle prüft nun ein gemeinsamer Ausschuss der Bremer Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigung. "Die Ergebnisse erwarten wir bis Ende des Jahres", sagt HKK-Pressesprecher Holm Ay.

    Eine Therapie mit Wachstumshormon kostet laut Arzneiverordnungsreport pro Jahr rund 15.000 Euro bei Kindern, bis zu dreimal so viel wird für erwachsene Patienten ausgegeben. Die Kasse verweist aber nicht nur auf hohe Kosten, sondern auch auf gesundheitliche Risiken: "Bedenklich" ist nach Ansicht der HKK, "dass die Hersteller bis heute den Verdacht massiver Nebenwirkungen und Spätschäden nicht ausräumen konnten."

    Tatsächlich ergaben Studien, dass mit Somatropin behandelte Kinder deutlich häufiger an Diabetes Typ 2 erkranken als Gleichaltrige, die kein Wachstumshormon einnehmen. Zudem verweist die HKK auf folgenden Eintrag im Bundesanzeiger: "Nach wie vor besteht der Verdacht, Somatropin könne die Krebsentwicklung fördern." Und der Pharmakonzern Pfizer informierte Ende Mai Ärzte darüber, dass weltweit sieben Kinder gestorben seien, die das von der Pfizer-Tochterfirma Pharmacia hergestellte Somatropin-Präparat Genotropin regelmäßig eingenommen hatten. Alle Verstorbenen lebten mit dem Prader-Willi-Syndrom, das mit Minderwuchs einher geht.

Überregionale Bedeutung
    Um die Kritik der HKK zurückzuweisen, bat der BKMF im April einen Professor aus Tübingen nach Bremen. Der Hormonspezialist Michael B. Ranke erläuterte während einer Pressekonferenz, bei der Behandlung von Wachstumsstörungen habe die Kinderklinik des Zentralkrankenhauses Bremen-Nord "überregionale Bedeutung". Versorgt würden dort auch viele Patienten aus anderen Bundesländern, was im wesentlichen erkläre, warum Somatropin in Bremen vergleichsweise häufig verordnet werde.

    BKMF-Fürsprecher Ranke engagiert sich auch im Forschungsprojekt "Wachstumshormontherapie bei Kindern ohne Wachstumshormonmangel". Initiiert wurde es vom Bonner Institut für Wissenschaft und Ethik, finanziert wird es durch die "Förderinitiative Bioethik" der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Im Projekt sollen Kinderärzte, Psychologen und Philosophen gemeinsam "ethische Kriterien für die Behandlungsentscheidung" bei kleinwüchsigen Kindern entwickeln, denen es an Wachstumshormon gar nicht fehlt. Die dreijährige DFG-Förderung endet am 30. November. Anschließend ist mit bioethischen "Empfehlungen" zu rechnen.

© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 2003
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aus:
Südwest Presse 

10. Oktober 2003