ALTENPFLEGE Nr. 5/98

Gegen geltendes Recht
Es geht ans Eingemachte. Voraussichtlich im Mai entscheidet sich, ob die Regierung die Bioethik-Konvention des Europarates unterzeichnet. Geschieht dies, sind der Forschung an Alzheimerkranken Tür und Tor geöffnet – auch gegen deren Willen.



Von Klaus-Peter Görlitzer
Rund 1,5 Millionen Menschen, darunter zahlreiche MitarbeiterInnen von Pflegeheimen, Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen, haben per Unterschrift dokumentiert, daß sie die Bioethik-Konvention des Europarates ablehnen. Ob der breite Protest den Bundestag beeindruckt, wird sich voraussichtlich im Mai zeigen, wenn es in Bonn um die Frage geht: "Soll die Bundesregierung das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin unterzeichnen oder nicht?"

    Würden Parlament und Regierung den Völkerrechtsvertrag in Kraft setzen, nähmen sie einen "Dammbruch zentraler Werte unserer Verfassung in Kauf", warnt Ursel Fuchs von der Internationalen Initiative "Bürger gegen Bioethik", die bereits im Frühjahr 1994 vor den Inhalten der Konvention gewarnt hatte. Tatsächlich unterläuft das Paragraphenwerk, das europäische Mindeststandards setzen soll, das hierzulande geltende Recht gleich mehrfach. Die heftigste Kritik richtet sich gegen die Ermächtigung zur "fremdnützigen Forschung" an Menschen, die nicht persönlich einwilligen können, etwa bewußtlose, altersverwirrte, geistig behinderte, psychisch kranke Patienten und Kinder. An ihnen sollen Wissenschaftler künftig in Ausnahmefällen medizinische Versuche auch dann vornehmen dürfen, wenn sie damit keinen gesundheitlichen Nutzen für den Betroffenen anstreben.

    Solche Humanexperimente ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen sind in der Bundesrepublik bislang verboten - in Anlehnung an den "Nürnberger Kodex", den US-amerikanische Militärrichter 1947 im Blick auf Verbrechen deutscher Ärzte im NS-Staat formuliert hatten. Aber einige Forscher stehen längst in den Startlöchern und fordern, das deutsche Arzneimittelgesetz an die Vorgaben der europäischen Bioethik-Konvention anzupassen.

    Ein deutscher Wortführer ist der Psychiatrie-Professor Hanfried Helmchen von der Freien Universität Berlin, der auch Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer ist. Helmchen will Demenzkranke in den Dienst zukünftiger Patientengenerationen stellen, um den Ursachen bisher nicht heilbarer Krankheiten auf die Spur zu kommen. Die Zahl der Betroffenen ist groß: Mindestens 800.000 Menschen leben nach Schätzung der Bundesregierung hierzulande mit einer Form der Demenz, deren bekannteste die Alzheimer-Krankheit ist.

    Gemeinsam mit einem Arbeitskreis aus Psychiatern, Juristen, Theologen und einer Vertreterin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft hat Helmchen Bedarf angemeldet für Versuche mit Probanden, die selbst nicht einwilligen können. Beispielsweise könne die Frage, ob und in welcher Dosis eine Substanz oder ein Medikament gegen Demenzsymptome wirke, nur durch Tests mit den jeweils von der Krankheit Betroffenen geklärt werden; Tierversuche oder Tests mit gesunden Freiwilligen seien nicht hinreichend aussagekräftig. Für den Demenzkranken ohne persönlichen Nutzen, aber zwecks neuer Erkenntnisse wichtig sei der Einsatz invasiver diagnostischer Methoden. Dazu zählen Hirn-Computertomographien (Röntgenaufnahmen des Gehirns) und Untersuchungen des Hirnstoffwechsels, wobei der Patient radioaktiv strahlende Substanzen einatmen muß. Auf diese Weise sollen bestimmte chemische Substanzen markiert werden, die für Stoffwechselprozesse im Hirn benutzt werden.

    Solche fremdnützigen Eingriffe führten "zu keinerlei funktionellen oder substantiellen Schädigungen des Patienten", schreiben die Wissenschaftler in ihrem 1995 veröffentlichten Buch "Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?". Gleichzeitig räumen sie aber ein, daß es sich bei den von ihnen empfohlenen Arzneimittelerprobungen, Belastbarkeitstests, Befragungen und Diagnosemethoden "nicht immer um Verfahren" handeln werde, "bei denen sich jedes gesundheitliche Risiko für die Versuchsperson ausschließen läßt". Trotzdem unterstellen Helmchen und seine Co-Autoren "ein soziales Verpflichtungsgefühl" bei den Probanden. Aus "Solidarität mit den Erkrankten zukünftiger Generationen" seien viele Demenzpatienten angeblich bereit, an Humanexperimenten mitzuwirken.

    Ganz anders sehen das mehrere Regionalgruppen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, beispielsweise in Hamburg, Dortmund, Münster und im Kreis Neuss. Der Neusser Vorsitzende Paul Hermkes betont: "Wir sind strikt gegen jede fremdnützige Forschung an unseren Kranken!" Statt die europäische Konvention zu zeichnen, solle die Bundesregierung lieber im eigenen Land aktiv werden - und zwar gegen "bereits bestehende Menschenrechtsverletzungen wie Fixieren und Sedieren" von PatientInnen.

    Würden Bundesregierung und Parlament die Bioethik-Konvention trotz der Proteste unterzeichnen und ratifizieren, könnten Helmchen und Kollegen ihre Forschungsvorhaben verwirklichen. Daran ändern auch beschwichtigende Darstellungen nichts, die Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) immer wieder verbreiten läßt. Die Standardbeispiele seines Hauses für fremdnützige Forschungseingriffe an Nichteinwilligungsfähigen sind: Entnahme von Blut-, Urin- und Speichelproben, Wiegen, Messen, Befragen oder Beobachten. Diese Aufzählung ist jedoch nicht mehr als eine unverbindliche Interpretation, der Konventionstext enthält solche Definitionen nicht.

    Während Politiker und Wissenschaftler noch über die künftige Zulässigkeit streiten, wird in Berlin bereits mit Menschen geforscht, die sich nicht äußern können. "Natürlich geht es hier nicht nur darum, komatösen Patienten Blut abzunehmen, so niedlich sehen wir die Dinge in der Tat nicht", erklärte zum Beispiel der Neurologie-Professor Karl Max Einhäupl im April 1997 während einer Anhörung zur Biomedizin-Konvention im Berliner Abgeordnetenhaus. Der Arzt berichtete auch von seiner "Apalliker-Studie", die er am Klinikum Charité der Berliner Humboldt-Universität leitet. Versuchsteilnehmer sind Menschen, die aufgrund schwerer Hirnverletzungen in tiefe Bewußtlosigkeit gefallen sind - "apallisches Syndrom" lautet die medizinische Diagnose. Die Patienten scheinen nicht ansprechbar zu sein; doch sie atmen und zeigen körperliche Regungen, haben Wach- und Schlafphasen und geöffnete Augen. Deshalb wird ihr Zustand auch "Wachkoma" genannt. Jedes Jahr geraten hierzulande mindestens 3.000 Menschen ins Wachkoma, die Ursachen sind vielfältig: Sport- oder Verkehrsunfall, Tumor, Schlaganfall, Blutung oder Entzündung des Gehirns.

    Für die Beforschten sei ein Nutzen "geradezu ausgeschlossen", versichert Einhäupl, Linderung oder Heilung seien mit seiner Studie auch gar nicht beabsichtigt. "Wir versuchen", erläuterte er das Ziel, "Kriterien zu finden, die uns erlauben zu sagen, daß der Patient keine Chance mehr hat, zu einem kommunikativen Leben zurückzukommen." Zu diesem Zweck beobachtet Einhäupls Team mindestens 15 WachkomapatientInnen mit einer Videokamera und testet unter anderem, wie sie auf bestimmte Reize reagieren. Von Interesse ist für die Forscher zum Beispiel, ob der Proband eine Miene verzieht, wenn ihm Schmerz zugefügt wird, etwa an Nase oder Fingernägeln. Zum Versuchsprogramm gehört auch die "Blitzstimulation der Augen". Dabei wird gemessen, ob bei Einsatz von Flackerlicht eine verstärkte Hirndurchblutung auftritt. Gibt es keine Veränderung beim bewußtlosen Patienten, gehen die Wissenschaftler davon aus, daß seine Großhirnrinde zerstört ist.

    Wozu die Ergebnisse seiner Studie dienen sollen, faßte Einhäupl, der Direktor der Charité-Klinik für Neurologie ist, so zusammen: "Sollten wir zu dem Resultat kommen, durch die Untersuchung von - ich nenne irgendeine Zahl - 100 Patienten, daß bei allen 100, bei denen dieser Befund vorlag, keine Chance einer Restitution besteht, dann würden wir in Zukunft Patienten, bei denen wir den Befund erheben, von einer weiteren Therapie und Behandlung ausschließen."


© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 1998
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