Neue Strategie der Gen-Gläubigen
Das "Nationale Genomforschungsnetz" soll genetische Erklärungen für "Volkskrankheiten" produzieren
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, haben Politik und Wissenschaftslobby Strategien und Ziele der Genforschung in Deutschland neu ausgerichtet. Rund zehn Jahre hatte man sich darauf konzentriert, nach genetischen "Ursachen" für seltene Erkrankungen zu fahnden. Nun hat sich die Gemeinde der Gen-Gläubigen vorgenommen, genetische Erklärungen auch für so genannte "Volkskrankheiten" zu produzieren was die Biotechindustrie freudig begrüßt. Als Motor der neuen Strategie hat Rot-Grün ein "Nationales Genomforschungsnetz" initiiert. Die beteiligten Einrichtungen sind auf einen besonderen Rohstoff angewiesen: Blut- und Gewebeproben der Bevölkerung.


Von Klaus-Peter Görlitzer
Edelgard Bulmahn (SPD) verbreitete mal wieder Aufbruchstimmung in langen Sätzen: "Mit dem Nationalen Genomforschungsnetz", sagte die Bundesforschungsministerin, "gelangt Deutschland an die Spitze bei der öffentlichen Förderung der systematischen Funktionsanalyse der Gene und der Anwendung der Forschungsergebnisse zur Bekämpfung verbreiteter Erkrankungen." Die Verheißung datiert vom 30. März 2001, als Bulmahn vor JournalistInnen eine Ausgabe von 350 Millionen Mark bis Ende 2003 rechtfertigte. Das Geld, das die Bundesregierung bei der Versteigerung der UMTS-Lizenzen eingenommen hatte, fließt in den Aufbau eines "Nationalen Genomforschungsnetz" (NGFN), das parallel zum bereits 1995 installierten "Deutschen Humangenomprojekt" (DGHP) arbeiten soll.

    Offiziell soll das NGFN dazu dienen, "die molekularen Mechanismen und Ursachen" der häufigsten Leiden aufzuklären: Herz-Kreislauferkrankungen, Krebs, Infektionen, neurologische und umweltbedingte Erkrankungen. Auf Basis bestimmter, "gefundener Gene" sollen, so die Theorie, anschließend Medikamente und Therapien entwickelt werden. Dieser nicht gerade bescheidene Anspruch ist allerdings selbst in der Humangenetikszene umstritten: "Einige Wissenschaftler befürchten, dass bei der Erforschung der komplexen Erkrankungen kein wirklicher Erkenntnisfortschritt erreicht wird, da diese Erkrankungen eben auch für die Forschung zu komplex seien", räumt NGFN-Öffentlichkeitsarbeiter Jörg Wadzack ein.

    Trotz solcher grundsätzlichen Bedenken machen 38 wissenschaftliche Einrichtungen im Genomnetz mit. Den "Kernbereich" bilden fünf Institute, die vom Bundesforschungsministerium (BMBF) als die "leistungsfähigsten nationalen Zentren" angesehen werden: das Deutsche Krebsforschungszentrum (Heidelberg), die Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (Braunschweig), das GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit (München), das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (Berlin) und das Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik (Berlin).

    Zentrale Aufgabe dieser Einrichtungen ist die "funktionelle Genomanalyse". Eingebunden sind Bioinformatik und Proteomanalyse, welche Menge, Art und Funktionen von Eiweißmolekülen untersucht. Die Kooperationspartner stellen selbst Eiweiße her; sie kreieren und analysieren transgene Mäuse, und sie sequenzieren ausgewählte Genomabschnitte von Schimpansen, Rhesusaffen und Laborratten, die zum Erforschen von "Volkskrankheiten" bedeutsam sein sollen.

Auf der Suche nach "Erfolgen"
    "Gleichgewichtig" zu diesem so genannten "Kernbereich" agieren fünf "medizinische Netzwerke", gebildet von Universitätskliniken in 13 Städten. In Berlin wird danach gesucht, welche Gene für Entstehung, Verlauf und Therapie von Dickdarmkrebs, Gehirntumoren und bösartigen Lymphomen relevant sein sollen. In Erlangen wird Mastdarmkrebs tumorbiologisch untersucht. Verschiedene Tumore werden in Essen genetisch klassifiziert. Während man in München die Molekulargenetik von Leukämien und Brustkrebserkrankungen erforscht, wird in Frankfurt a.M. versucht, derartige Ergebnisse für neue, experimentelle Therapien zu nutzen.

    Herzkreislauf-Erkrankungen werden an vier Standorten genetisch unter die Lupe genommen. In Berlin werden "Tiermodelle" entwickelt, die dazu beitragen sollen, molekulargenetische Erklärungen zur Entstehung und Behandlung von Bluthochdruck zu liefern. Auf die "genetische Empfindlichkeit für Herzversagen" ist man in Göttingen spezialisiert, in München setzt die Genomforschung bei Herzrhythmusstörungen an. "Genetische Ursachen" von Herzfehlbildungen hoffen Lübecker WissenschaftlerInnen zu finden.

    Neurologische und neuropsychiatrische Erkrankungen werden an fünf Universitäten durch die molekulargenetische Brille gesehen. Die Liste der untersuchten Leiden ist lang: Morbus Alzheimer, Epilepsien, Schlaganfall, Parkinsonsche Erkrankung, Schizophrenie, Migräne, Essstörungen; auch "geistige Behinderungen" nehmen die GenforscherInnen in den Blick. Während die ExpertInnen in Bonn, Marburg und München stolz sind auf ihre "gut charakterisierten Patientenkollektive" sowie auf ihre "Kompetenz auf dem Gebiet der genetischen Epidemiologie und Statistik", steuern die Kooperationspartner aus Hamburg und Heidelberg ihr zellbiologisches und molekulares Know-how bei.

    Genetische Einflüsse für Infektionen und Entzündungen suchen MedizinerInnen in Berlin, Gießen, Hamburg, München und Tübingen. Sie beschäftigen sich mit chronisch entzündlichen Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis oder Lupus erythematodes, außerdem auch mit bakteriellen Infektionen wie Sepsis (Blutvergiftung) und Tuberkulose. Durch Viren ausgelöste Erkrankungen (Hepatitis, HIV) will man ebenso auf die molekulargenetische Spur kommen wie der Malaria.

    Auch Veranlagungen für "umweltbedingte Erkrankungen" sollen ermittelt werden. Zu dieser Rubrik zählen die NGFN-ForscherInnen zum Beispiel Psoriasis (Schuppenflechte) und entzündliche Erkrankungen des Verdauungstraktes, nach deren "genetischen Ursachen" Kieler ForscherInnen "an ausgewählten Patientenkohorten fahnden". In Berlin wird in Tierversuchen analysiert, inwieweit Entzündungen der Atemwege auf genetische Veränderungen zurückgeführt werden können. In München will man "genetische Varianten" feststellen, die für das Entstehen von Atopien (Überempfindlichkeitsreaktionen der Haut und der Atemwege) von Bedeutung sein sollen.

    Fast zwei Jahre ist das "Nationale Genomforschungsnetz" nun aktiv, die staatliche 350-Millionen-Mark-Finanzspritze soll bald, nämlich Ende 2003, verbraucht sein. Da wird es höchste Zeit, schon mal neue Gelder einzuwerben – und zu diesem Zweck ist es erfahrungsgemäß sinnvoll, der Öffentlichkeit "Erfolge" zu präsentieren. Mitte November 2002 war es so weit, NGFN und DGHP luden zum gemeinsamen Symposium nach Berlin. Die Zwischenbilanz fiel, trotz aller PR-Rhetorik, ziemlich ernüchternd aus. Die "Erfolge", aufgelistet in einer kurzen Pressemitteilung, passen jedenfalls nicht zum Anspruch, der in der Überschrift einmal mehr heraus gestellt wurde: "Krankheitsbekämpfung durch Genomforschung".

    Beispiel Nr.1 für "bereits weitreichende Ergebnisse" sei die chronisch entzündliche Darmerkrankung Morbus Crohn. Durch die "Genotypisierung der DNA von mehr als 3.000 Patienten" habe man "eine erste Genvariante gefunden", die zu permanenter Entzündung der Schleimhaut veranlage. Dass dieses Wissen "Ansatzpunkte" für Therapien bieten könne, steht zwar auch in der Pressemitteilung – wie solche Heilansätze irgendwann konkret aussehen sollen, erläuterten die GenforscherInnen jedoch nicht. Noch vager fiel Erfolgsmeldung Nr.2 aus, Thema Epilepsie: Mit Hilfe von Tiermodellen habe man einen veränderten Ionenkanal "gefunden". Dies bedeute, die identifizierte Veränderung "könnte", heißt es nebulös, "eine ursächliche Erklärung geben" für die "gestörte Zellkommunikation bei Epilepsie".

Welches Potenzial?
    Das war es auch schon – mehr "Erfolgsmeldungen" zu konkreten Krankheitsbildern publizierten die ÖffentlichkeitsarbeiterInnen nicht. Trotzdem verbreiten sie reichlich Optimismus: "Diese Ergebnisse zeigen, welches Potenzial die Genomforschung für das Gesundheitswesen und die Wirtschaft hat. Aus DGHP und NGFN zusammen sind in den letzten Jahren 40 Patente eingereicht worden, aus denen inzwischen sieben Lizenzverträge hervorgegangen sind."

    Diese Botschaft richtet sich an zwei Adressaten, die möglichst großzügig Gelder locker machen sollen. Der eine ist das BMBF. Das Ministerium lobt die GenomforscherInnen zwar regelmäßig und öffentlich. Aber es hat die Gen-Szene auch ein wenig verunsichert. Das Haus Bulmahn plant nämlich, die parallel arbeitenden NGFN und DGHP ab 2004 in einem neuen Genomforschungsprogramm zu vereinen – eine Reform, die Effizienzsteigerung verspricht, aber vielleicht unterm Strich auch Mittelkürzungen zur Folge haben könnte. Das NGFN geht in die Offensive und reklamiert für sich fast eine Verdoppelung der Fördermittel auf dann 300 Millionen Euro für drei Jahre.

    Der zweite Adressat ist die als Kooperationspartner meist willkommene Biotechindustrie. Sie hofft, die wissenschaftlichen Innovationen in konkrete Produkte umsetzen zu können, vor allem in Form von Gentests und so genannten "maßgeschneiderten Medikamenten". Beides zu kombinieren, ist die Vision vieler Pharmafirmen. Vor der Verordnung eines Arzneimittels, so der lukrative Traum, soll der Patient sich routinemäßig auf individuelle Empfindlichkeiten molekulargenetisch testen lassen, damit der behandelnde Arzt die Auswahl des wirksamsten Präparates vornehmen und die richtig Dosierung abschätzen kann. Die Realisierung solcher Modelle würde faktisch zu einer – wenn auch formal freiwilligen – genetischen Selbstoffenbarung von Millionen Menschen führen, was auch Anbieter von Versicherungen und Arbeitsplätzen gern sehen würden.

    Wollen sie es aber wirklich so weit bringen, müssen die GenforscherInnen erst einmal ein zentrales Beschaffungsproblem lösen. "Wir kommen bisher schneller voran als gedacht", behauptete NGFN-Projektkomiteesprecher Stefan Schreiber zwar auf dem Berliner Kongress. "Aber wir benötigen jetzt dringend Material von Patienten, von Zehntausenden von Patienten." Immerhin hätten diverse Zentren für "einige Krankheiten" wie Epilepsie, Morbus Chron und Dickleibigkeit "schon recht große Zahlen gesammelt". Doch isolierte Einzelsammlungen reichen den vernetzten GenforscherInnen nicht. "Wir wollen eine zentrale Biobank", hatte Schreiber im Oktober bereits an den "Nationalen Ethikrat" appelliert. In der Datenbank sollen Blut- und Gewebeproben sowie Informationen über Krankheitsverläufe und Lebensführung von hundertausenden, wenn nicht Millionen Menschen anonymisiert aufbewahrt und für Projekte von GenforscherInnen aus Universitäten und Unternehmen zugänglich gemacht werden.

Hoffen auf Schröders "Ethikrat"
    Ob der von Bundeskanzler Gerhard Schröder persönlich installierte "Nationale Ethikrat" mal wieder für die Branche ins Zeug legen wird, dürfte sich in diesem Frühjahr zeigen. Dann will die ausgewählte Runde eine Stellungnahme zu Chancen und Risiken von "Biobanken" veröffentlichen – gemeinsam mit dem Ethikrat Frankreichs, wo bereits vor zwölf Jahren die erste Genproben-Sammlung etabliert worden ist. Grundsätzlich darf das NGFN vom Ethikrat Zuspruch erwarten. Dafür bürgt schon die Zusammensetzung des Gremiums, in dem das NGFN durchaus überdurchschnittlich repräsentiert ist: Im zur Zeit 23-köpfigen Ethikrat saß bis Mitte Februar auch der Vorsitzende des "NGFN-Lenkungsgremiums", Prof. Ernst-Ludwig Winnacker. Seine Positionen werden dort sicher auch künftig gut vertreten, denn zur Schröders Ethikrunde gehören auch die Genforscher Detlev Ganten und Peter Propping. Beide reden und entscheiden auch im "NGFN-Projektkomitee" mit, dessen Aufgabe es ist, die Forschung des Genomnetzes zu koordinieren und der Öffentlichkeit plausibel zu machen.

© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 2003
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aus:

BIOSKOP 

Nr. 21 (März 2003)










 





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