Eine "Vision" der Pharmaindustrie und die möglichen Risiken und Nebenwirkungen ihrer Realisierung Die Pharmaindustrie träumt von der Produktion "maßgeschneiderter Medikamente", die zum Genprofil ihrer KonsumentInnen passen sollen. Wird diese Vision irgendwann Realität, drohen erhebliche Nebenwirkungen: Gentests und die Offenbarung ihrer Ergebnisse könnten zur alltäglichen Routine werden, "gesunde Kranke" zur medikamentösen Vorsorge verpflichtet werden. Von Klaus-Peter Görlitzer Der Skandal um den Cholesterinsenker Lipobay hat das Image der Pharmabranche nicht gerade gefördert. Weil das Medikament im Verdacht steht, schwerwiegende Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen verursacht zu haben, lieferte es im Spätsommer 2001 wochenlang Stoff für negative Schlagzeilen. Vom großen öffentlichen Interesse offensichtlich beeindruckt, holte die Herstellerfirma schließlich zum Befreiungsschlag aus: Die Bayer AG zog Lipobay am 8. August 2001 aus dem Markt zurück. Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), dem auch Bayer angehört, ging zwei Wochen später in die PR-Offensive und lud zur Pressekonferenz, Motto: "Unsere Arzneimittel sind sicher – der Verunsicherung der Patienten entgegentreten". Dabei rechnete VFA-Hauptgeschäftsführerin Cornelia Yzer vor, dass dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte allein im Jahr 2000 rund 150.000 Meldungen über Nebenwirkungen mitgeteilt worden seien, und zwar meist durch die Hersteller selbst. Mit einem kurzen "Blick in die Zukunft" skizzierte Yzer sodann, wie die Pharmaindustrie perspektivisch gedenkt, unerwünschte Medikamenten-Effekte in den Griff zu bekommen: "Unsere Vision ist die maßgeschneiderte Medizin." Chipkarten
mit Gen-Daten
Die technische Voraussetzung für solche Ideen könnte der elektronische "Arzneimittelpass" schaffen, den Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) nach dem Lipobay-Skandal angekündigt hat. Allerdings ist die Einführung der Chipkarte für alle Krankenversicherten zur Zeit ebenso ungewiss wie ihr Inhalt. Ob darauf auch genetische Daten gespeichert werden sollen, sei "noch nicht geklärt", antwortete Schmidts Ministerium im Dezember auf eine "Kleine Anfrage" der CDU/CSU-Fraktion zur "Verbesserung der Arzneimittelsicherheit". Blut- und
Gewebeproben gefragt
Mit ihren eigennützigen Motiven hausieren die Pharmafirmen zwar nicht gerade, aber sie leugnen sie auch nicht. In Stellungnahmen der Unternehmen kann man nachlesen, dass es ihnen darum geht, Entwicklung und Prüfung von Arzneimitteln erheblich zu beschleunigen, preiswerter zu gestalten, Zulassungsrisiken zu minimieren und die Zahl vermarktbarer Präparate deutlich zu erhöhen. Wie Pharmakogenetik dabei helfen kann, erläutert anschaulich eine Studie, welche die deutsche Niederlassung der Unternehmensberatung "Boston Consulting Group" im Jahr 2001 vorgestellt hat: "Unternehmen müssen häufig die Entwicklung von Medikamenten einstellen, weil ein Wirkstoff zwar für das Gros einer Probandengruppe verträglich ist, bei einigen wenigen aber Nebenwirkungen auslöst, die u.U. durch einen genetischen Defekt bedingt sind. Können solche ‚Negativgruppen‘ vorab vom Test ausgeschlossen werden (und auch vom späteren Medikamentengebrauch), dann könnten mehr Arzneien zur Marktreife gebracht werden, die ansonsten an den Zulassungsvoraussetzungen für breite Probandengruppen scheitern würden." Neue
Chance für "Versager"
Dass es sich bei der Pharmakogenetik um "ein tragfähiges Konzept" handele, stützt der VFA gern mit dem Beispiel Herceptin. Dieses Arzneimittel ist die erste auf Pharmakogenetik beruhende Innovation, die hierzulande eine Zulassung erhalten hat. Das Medikament mit dem Wirkstoff Trastuzumab darf seit dem Jahr 2000 zur Behandlung einer bestimmten Brustkrebsart eingesetzt werden; es wirkt laut VFA "nur bei einer Untergruppe von Patientinnen, die aufgrund ihrer genetischen Ausstattung ein bestimmtes Protein (den HER2-Rezeptor) im Tumorgewebe überexprimieren". Die Patientinnen, die für die Behandlung mit Herceptin geeignet sein sollen, werden durch einen ebenfalls zugelassenen pharmakogenetischen Test ermittelt; seit Oktober 2001 erstatten die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten des Herceptests. Einzelfall
Herceptin
Spürbar ist der Druck auf Menschen mit "genetischer Belastung" bereits heute, weshalb ein Gentestgesetz sie nun vor Diskriminierung in Versicherungs- und Arbeitsverhältnissen schützen soll. Druck könnte irgendwann auch die Verfügbarkeit genetisch klassifizierter Arzneimittel ausüben: Sind solche Präparate erst einmal auf dem Markt, kann die "maßgeschneiderte" medikamentöse "Vorsorge" für "gesunde Kranke" unversehens zur Pflicht erklärt werden, weil dies im finanziellen Interesse der Solidargemeinschaft angeblich dringend geboten sei. © KLAUS-PETER GÖRLITZER, 2002 Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors |
aus: BIOSKOP Nr. 17 (März 2002)
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