Selbst über das Ende bestimmen
"Sterbehilfe" für Menschen, die gar nicht im Sterben liegen, soll legitim werden. Ermöglichen soll dies die rechtsverbindliche Anerkennung von Patientenverfügungen, für die Politiker, Ärzteschaft und Kirchen werben. "Tötung auf Verlangen" soll tabu bleiben vorerst.


Von Klaus-Peter Görlitzer
Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD), laut Selbstdarstellung "die bundesweite Interessenvertretung Konfessionsloser", hat eine Mission. Unermüdlich streitet die Organisation dafür, "aktive Sterbehilfe" nach niederländischem und belgischem Vorbild hierzulande straffrei zu stellen: Ärzte sollen Patienten töten dürfen, wenn der Betroffene dies wünscht.  Als langjähriger Vorsitzender des HVD amtierte bis März der eher unauffällige SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Stöckel, und der hat seinen Bekanntheitsgrad vor Ostern erheblich gesteigert: Via Berliner Zeitung kündigte Stöckel an, er und einige Parlamentarier von SPD, Grünen und FDP planten eine Initiative für ein "Sterbehilfe-Gesetz". Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und sofort hagelte es Proteste: Politiker aller Fraktionen, Bundesärztekammer, Hospizstiftung, die großen Kirchen – allesamt wiesen sie Stöckels Vorstoß entrüstet zurück.

    Womöglich haben sie seinen Antrag mit dem Titel "Autonomie am Lebensende" gar nicht gelesen. Jedenfalls taktiert der Politiker Stöckel anders als der HVD-Repräsentant Stöckel: Im Bundestag fordert er keineswegs die Zulassung "aktiver Sterbehilfe". Vielmehr verlangt Stöckel, was auch viele seine Kritiker wollen: die rechtsverbindliche Anerkennung so genannter Patientenverfügungen. Mit solchen Papieren erklären Menschen bei vollem Verstand, dass sie im Fall späterer Nichteinwilligungsfähigkeit, etwa im Koma oder bei fortgeschrittener Demenz, durch Abbruch medizinischer Behandlung zu Tode gebracht werden wollen. Vorab verlangt werden zum Beispiel: das Stoppen von Beatmung, Flüssigkeitszufuhr oder Ernährung via Magensonde; Unterlassen von Dialyse, Bluttransfusionen und Antibiotika-Gaben.

    Stöckels Kalkül ist offensichtlich: Akzeptiert der Gesetzgeber erst einmal das Verhungernlassen bewusstloser Menschen auf Basis einer Patientenverfügung, wird er einwilligungsfähigen Kranken die Giftspritze auf Dauer nicht verweigern können. Dabei vernebelt der Begriff "Sterbehilfe", dass sich die Betroffenen in der Regel überhaupt noch nicht im Sterbeprozess befinden.

    Zwar ist der "Autonomie-Antrag" im Bundestag chancenlos. Doch das Bundesjustizministerium (BMJ) bereitet längst vor, was Stöckels HVD als Meilenstein auf dem Weg zur Freigabe "aktiver Sterbehilfe" erreichen will. Das BMJ hat eine Arbeitsgruppe beauftragt, "die Grundlage für eine Muster-Patientenverfügung" zu schaffen; ihr Gutachten soll noch vor der Sommerpause vorliegen. "Handlungsbedarf" sieht das BMJ, weil der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshof (BGH) im März 2003 Patientenverfügungen erstmals als verbindlich bewertet hat – obwohl bislang kein deutsches Gesetz sie erwähnt.

Kurswechsel der Bundesärztekammer
    Vorsitzender der Arbeitsgruppe, in der auch Vertreter von Ärzteschaft, Hospizbewegung, Kirchen und HVD mitwirken, ist der pensionierte BGH-Richter Klaus Kutzer. Der Strafrechtler plädiert seit Jahren für eine "Liberalisierung der Sterbehilfe": 1997 schrieb er in der Zeitschrift für Rechtspolitik, "in einer besonderen Ausnahmesituation" könne auch die ärztliche Tötung auf Verlangen des Patienten "gerechtfertigt oder entschuldigt" sein. Zudem ist Kutzer Mitautor jener "Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung", die einen fundamentalen Kurswechsel der Bundesärztekammer (BÄK) markiert haben. Mit dem im September 1998 veröffentlichten Papier, auf das auch der BGH verweist, billigten die Standesvertreter erstmals, dass Mediziner lebenserhaltende Maßnahmen bei Menschen unterlassen, die gar nicht im Sterben liegen; gleichzeitig bezeichnen die Grundsätze Patientenverfügungen als eine "wesentliche Hilfe für das Handeln des Arztes".

    1998 wurden noch viele Proteste laut. Den Ton der aktuellen Debatte um "Sterbehilfe" geben diejenigen an, die selbst bestimmte Behandlungsabbrüche befürworten. Zum Auftakt der "Woche für das Leben" der beiden großen christlichen Kirchen warb der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber dafür, die "Eigenverantwortung für die Gestaltung der letzten Lebenszeit" zu stärken – durch Abfassen der "Christlichen Patientenverfügung", die von evangelischer und katholischer Kirche gemeinsam angeboten wird.

Mediziner mahnen
    Es gibt auch skeptische Stimmen. Die Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) meint, "die Rede vom selbst bestimmten Sterben" sei im Zusammenhang mit Patientenverfügungen "reine Fiktion", da "das eigene Sterben und der Weg dorthin von niemanden von uns im Voraus zu berechnen" seien. Der CDU-Abgeordnete Hubert Hüppe warnt davor, "Sterbehilfe" ins Gespräch zu bringen, während über Geldmangel im Gesundheitswesen und zunehmende Alterung der Gesellschaft geklagt wird.

    Mit welchem Druck schwer Kranke rechnen müssen, lässt eine 2001 publizierte Broschüre "Sterbebegleitung" erahnen, die vom Bundesgesundheitsministerium verantwortet wird. Unter der Überschrift "Perspektiven" liest man dort: "Angesichts hoher Krankenhausbehandlungskosten am Lebensende wird insbesondere bei hochbetagten Patienten zu entscheiden sein, ob diese Ressourcen nicht besser in eine gemeindenahe palliative Medizin investiert werden sollen."

    Zu den Mahnern zählen auch einige Mediziner, etwa der Psychiatrieprofessor Klaus Dörner, der Internist Paolo Bavastro und der Neurochirurg Andreas Zieger, der eine Frühreha-Station für Schwerst-Schädel-Hirngeschädigte in Oldenburg leitet. Im Deutschen Ärzteblatt schrieben sie, Vorausverfügungen seien eine Überforderung für Patienten – weil diese "die Tragweite einer Befürwortung oder Ablehnung bestimmter Maßnahmen am Lebensende nicht übersehen können, geschweige denn die Umstände und harten medizinischen Fakten". Heute könnten 95 Prozent aller schweren Schmerzzustände "so zufriedenstellend behandelt werden, dass die Betroffenen keineswegs ‚dahindämmern‘ müssen".

    Ein vorab erklärter Therapieverzicht missachte die Würde aller Beteiligten, kritisieren Dörner und Mitautoren: "Der verfügte Arzt wird zum Erfüllungsgehilfen eines Patientenwillens, der von der konkreten Lebenssituation der Begegnung zweier Menschen abstrahiert."

© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 2004
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aus:
Südwest Presse 

28. April 2004












 
 
 
 
 


 











   

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Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) plant ein Gesetz, das Patientenverfügungen gesetzlich anerkennt. Kranke könnten dann rechtsverbindlich den Abbruch einer lebenserhaltenden Therapie verlangen. Dies finden zwanzig mehr oder minder prominente Strafrechtslehrer richtig – und sie gehen noch weiter: Sie plädieren dafür, dass Ärzte künftig Patienten bei der Selbsttötung helfen sollen. [MEHR]