Die Verteilung einer knappen Ressource

Rechtssicherheit sollte das neue Transplantationsgesetz bringen. Doch unklar ist, nach welchen Kriterien die Organe verteilt werden sollen. Bei der Bundesärztekammer werden jetzt Richtlinien diskutiert.


Von Klaus-Peter Görlitzer

Jeder zweite Arzt meint, beim Verteilen von Körperstücken zwecks Transplantation gehe es nicht mit rechten Dingen zu, und unter der Allgemeinbevölkerung glauben das sogar acht von zehn BürgerInnen. Das hat der Internist Franz Weber vom Transplantationszentrum Essen herausgefunden. Seine Umfrage, an der sich 759 ÄrztInnen aus Nordrhein-Westfalen und 5.530 EssenerInnen beteiligten, wurde von der Deutschen Stiftung Organtransplantation finanziell unterstützt.

    Gegen das verbreitete Mißtrauen, das sich auch gegen das Konzept des "Hirntodes" richtet, arbeitet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) mit Werbekampagnen und Broschüren. Darin liest man, das seit Dezember 1997 geltende Transplantationsgesetz (TPG) schaffe "Rechtssicherheit und Vertrauen". Mehr noch: "Es stellt ferner sicher, daß die knappen Spenderorgane möglichst gerecht – also nach medizinischen Kriterien – verteilt werden und daß die Organvermittlung mit größtmöglicher Transparenz geschieht."

    Dies ist, 16 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes, allenfalls eine Wunschvorstellung. Denn die im TPG eingeforderten Regeln, die festlegen, wer als potentieller Organempfänger in Frage kommt, existieren bisher ebensowenig wie Richtlinien, die Gerechtigkeit beim Verteilen von Körperstücken "hirntoter" Menschen glaubhaft und praktikabel machen sollen.

    Zuständig ist laut TPG die Bundesärztekammer (BÄK), und die hat ihre "Ständige Kommission Organtransplantation" beauftragt, entsprechende Regeln zu formulieren. Das Gremium, in dem neben Medizinern auch Juristen, Philosophen und an Transplantationen interessierte PatientInnen vertreten sind, konnte sich in vertraulichen Sitzungen offenbar noch nicht einigen.

    Immerhin einen Einblick in Diskussion und Probleme gibt Professor Hans-Ludwig Schreiber. Der Göttinger Strafrechtler, der als Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren noch darauf hingewiesen hatte, daß es verfassungsrechtlich bedenklich sein könne, einer nicht-staatlichen Stelle wie der BÄK die Entwicklung von Verteilungsregeln zu übertragen, ist Vorsitzender der BÄK-Kommission.

        Als solcher brütet er nun darüber, wie das TPG auszulegen und umzusetzen ist. Das Gesetz verlangt recht allgemein, daß Organe nach dem "Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft", "insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit für geeignete Patienten zu vermitteln" seien. "Das", sagt Schreiber, "ist ja eigentlich schon in sich ein Widerspruch": Bei hoher Dringlichkeit sei die Erfolgsaussicht vielleicht nicht so hoch, "etwa, wenn beim Empfänger eines dringlich benötigten Organs wegen seiner Begleiterkrankungen oder wegen der Gewebeverträglichkeit die Aussicht gering ist, daß er mit dem Organ mehr als nur ganz kurzfristig wird leben können". Andererseits sei es auch möglich, daß bei hoher Erfolgsaussicht die Dringlichkeit nicht so stark sei.

    Der Gesetzgeber hat es schlicht versäumt, den Begriff "Erfolgsaussicht" zu definieren, Interpreten können nun spekulieren: Soll "Erfolgsaussicht" danach bemessen werden, wie lange ein transplantiertes Organ funktioniert und der Empfänger überlebt? Oder ist dafür die Verbesserung des persönlichen Wohls jedes einzelnen Kranken maßgeblich, der von einer Transplantation profitieren könnte? Diesen Gegensatz zwischen utilitaristischer Sicht und traditioneller medizinischer Ethik hatte der Mannheimer Soziologe Volker Schmidt bereits 1996 bei einer Sachverständigenanhörung aufgezeigt. Schmidt betonte, es könne gar keine medizinischen Gründe dafür geben, Kranken eine Behandlung vorzuenthalten, die ihnen potentiell nutzen könne. Folglich trage zur Vernebelung bei, wer die Verteilung knapper Ressourcen, die transplantierbare Körperstücke unbestritten seien, medizinisch zu begründen suche.

    Trotz solcher grundsätzlichen Einwände verlangt das TPG medizinische Kriterien, und die BÄK-Kommission versucht, sich an diese Sprachregelung zu halten. Laut Schreiber soll ein mathematisches Modell, das mehrere Faktoren unterschiedlich gewichtet, künftig für eine gerechte Organverteilung sorgen. Einen endgültigen Entwurf gebe es zwar noch nicht, doch im Kern stehe das Modell fest. Danach soll die Stiftung Eurotransplant im niederländischen Leiden - wie im wesentlichen bisher schon - für die Vermittlung von Nieren, Lebern, Herzen, Lungen und Bauchspeicheldrüsen zuständig sein. Jedes Mal, wenn ein Organ eines als "hirntot" diagnostizierten Spenders verfügbar sei, soll der Eurotransplant-Computer per Selektionsprogramm errechnen, welcher Patient auf der Warteliste der relativ geeigneteste Empfänger sei.

    Die Eignung soll in bis zu 1.000 Punkten ausgedrückt werden. Grundsätzliche Voraussetzung sei, daß Blutgruppe von Spender und Empfänger übereinstimmten oder zumindest kompatibel seien. Bis zu 400 Punkte, also maximal vierzig Prozent, könnten für den jeweiligen Grad der Gewebeverträglichkeit vergeben werden. Die Wartezeit auf ein Organ werde laut Modell mit höchstens 300 Punkten angerechnet, wobei pro Jahr 50 Punkte gutgeschrieben würden. Die Distanz zwischen Entnahme- und Verpflanzungsort soll mit bis zu 20 Prozent gewichtet werden, je kürzer die Entfernung, desto mehr Punkte soll es geben. Dieses Kriterium war laut Schreiber "in der Kommission sehr umstritten", weil es - wie auch die Wartezeit - nicht streng medizinisch ist. Doch lasse sich die Aufnahme in den Katalog damit begründen, daß der Erfolg einer Transplantation um so wahrscheinlicher werde, je kürzer die Zeit sei, die für Konservierung und Transport des Spenderorgans aufgewendet werden müsse.

    Wer die meisten Punkte unter den Wartenden aufweist, soll das zu vergebende Organ bekommen – aber nur im Prinzip. Denn die BÄK-Kommission plant Ausnahmen, die die Chancen "besonders benachteiligter" PatientInnen verbessern sollen. Sonderpunkte soll es für Kranke mit seltenen Gewebeverhältnissen und für Kinder im Wachstumsalter geben. Wer mehrere Körperteile gleichzeitig benötige, zum Beispiel Niere und Bauchspeicheldrüse oder Herz und Niere, solle vorrangig bedient werden. Und in Einzelfällen, in denen eine lebensbedrohliche Situation vorliege oder absehbar sei, soll der Kranke spätestens innerhalb von sechs Wochen ein menschliches Ersatzteil erhalten.

    Ungewiß ist bisher, wer nach welchen Kriterien auf die künftig bundeseinheitliche Warteliste für Organe kommen soll und wer nicht. Derzeit sei die BÄK-Kommission dabei, bestimmte Krankheitszustände zu definieren, die Menschen dazu berechtigten, auf die Liste aufgenommen zu werden.

    Für Jurist Schreiber ist klar: Erfüllt ein Kranker die Kriterien, hat er einen Rechtsanspruch auf einen Wartelistenplatz – unabhängig davon, ob sein Arzt eine Transplantation empfiehlt oder nicht. Fraglich ist, ob man Menschen von vorneherein von der Liste ausschließen kann, die zwar nicht unbedingt auf ein fremdes Körperteil angewiesen sind, denen ein Transplantat aber womöglich nützen könnte. Schreiber hält es durchaus für möglich, daß der Rechtsanspruch dazu führen könne, daß die Wartelisten länger werden – derzeit warten nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation hierzulande rund 13.000 Menschen auf ein Transplantat, 11.000 davon auf eine Niere. Würde jeder Dialyse-Patient Anspruch auf eine neue Niere erheben, könnte sich sich die Zahl der Wartenden verfünffachen.

    Klar ist, daß sich an der Knappheit verfügbarer Organe auf absehbare Zeit nichts ändern und der Großteil der potentiellen EmpfängerInnen vergeblich auf ein Körperteil warten wird. Deshalb und wegen der schwammigen Kriterien des Gesetzes dürften Auseinandersetzungen programmiert sein, die der Münsteraner Juraprofessor Bernd Holznagel 1998 im Deutschen Ärzteblatt als "Alptraum von Ärzten wie Juristen" bezeichnet hat: "Zwei Patienten, die sich im Wege der Konkurrentenklage vor dem Verwaltungsgericht um eine Niere streiten". Mit solchen Verfahren rechnet auch Schreiber. Allerdings sei bisher noch unklar, wie Vermittlungsentscheidungen der niederländischen Stiftung Eurotransplant in Deutschland mit Rechtsmitteln angegriffen werden können.

    Der BÄK-Vorstand muß die Regeln für Warteliste und Organverteilung laut TPG spätestens im Dezember beschlossen und mit den Spitzenverbänden von Krankenkassen und Krankenhausträgern vereinbart haben; den Vertrag, der die Zusammenarbeit bei der Organentnahme festlegt, muß das Bundesgesundheitsministerium schließlich genehmigen.

    Bislang haben Politik, Verbände und Kassen zum heiklen Thema "Organverteilung" geschwiegen. Dagegen plädiert Jurist Schreiber für eine öffentliche Diskussion, und ein BÄK-Symposium zu den Richtlinien vor der endgültigen Beschlußfassung hält er für wünschenswert. Ob die BÄK Schreibers Anregung umsetzt, ist noch unklar. Im Spätsommer sollen die Richtlinien als Entwurf vorliegen.

© KLAUS-PETER GÖRLITZER, 1999
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aus:
die tageszeitung

31. März 1999



 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 


Ob der "HIRNTOD" wirklich mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen ist – diese Frage ist auch heute, mehr als zwei Jahre nach Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes, unter Experten wie Bürgern umstritten. Daran hat auch das Gesetz nichts geändert, das den "Hirntod" legitimiert hat und dazu beitragen sollte, die Zahl verfügbarer Organe zu steigern. Fakt ist: Die Zahl der jährlichen Verpflanzungen stagniert bei unter 4.000.

































Das Dilemma, dass Schwerkranke auf den "Hirntod" von Mitmenschen hoffen müssen, wird bestehen bleiben, solange Menschen das Verpflanzen von Organen für ein therapeutisches Mittel der Wahl halten. [MEHR]

























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